Die Sicherheit der Europäischen Union erfordert eine Europäische Armee
Die Ankündigung der Briten, die Europäische Union zu verlassen, ist ein schwerwiegender Rückschlag für Europa. Die Union verliert fast 20 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass sich die Gewichte innerhalb der Europäischen Union verschieben. Deutschland gerät immer weiter in eine Führungsrolle, die es allein nicht ausfüllen kann.
Dazu kommt die neue Orientierung der amerikanischen Politik durch US-Präsident Donald Trump. Die Außenpolitik stellt offener als in der Vergangenheit die Interessen der Vereinigten Staaten in den Mittelpunkt und bedient sich aller protektionistischen Instrumente.
Diese Entwicklung ist aber auch eine Chance. Sie macht uns Europäern deutlich, dass es notwendig sein wird, mehr als bisher auf unseren eigenen Füßen zu stehen. Sie muss Anlass sein, darüber nachzudenken, wie das verloren gegangene Vertrauen zurückgewonnen werden kann und wie die Europäische Union ohne das bisherige Mitgliedsland Großbritannien aussehen soll.
Sicherheit und Wohlstand
Was wir als Europäer von der Union erwarten können, sind Beiträge zu unserer Sicherheit und zu unserem Wohlstand. Wohlstand entsteht aber nur dann, wenn zunächst einmal die Sicherheit gewährleistet ist. Daraus ergeben sich zwei zentrale Aufgabenbereiche für die Union:
- erstens ein gemeinsamer Markt mit einer gemeinsamen Währung. Diesen gilt es nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und im ordnungspolitischen Sinne der Freiburger Schule zu gestalten.
- zweitens eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, zu der auch eine gemeinsame Armee gehören sollte. In einem nächsten Schritt müssen permanente Strukturen geschaffen werden, mit denen Streitkräfte der Staaten der Europäischen Union ohne langwierige Vorbereitungen gemeinsam zum Einsatz gebracht werden können.
Dabei muss das Prinzip der Subsidiarität konsequenter als bisher angewendet werden. Die Aufgaben, die ebenso gut von den Nationalstaaten erfüllt werden können, sollten dann auch von diesen übernommen werden.
Binnenmarkt und Außengrenzen
Der europäische Binnenmarkt ist eine der am wenigsten umstrittenen Errungenschaften der Europäischen Union. Die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsländern war eine Entbürokratisierungsaktion von bisher nicht da gewesenem Ausmaß. Millionen von Zolldokumenten wurden dadurch obsolet.
Kern des Binnenmarktes ist die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsländern. Das ist aber nur dann möglich, wenn ein wirksamer Schutz an den Außengrenzen besteht. Die Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass die dafür zuständigen Mitgliedsländer dazu nicht in der Lage sind. Darum ist es dringend notwendig, die Zuständigkeit für den Schutz der Außengrenzen auf die Europäische Union zu übertragen und als ersten Schritt den neu eingerichteten Grenz- und Küstenschutz der Europäischen Union wesentlich zu verstärken.
Wirtschaftsordnung, nicht Wirtschaftsregierung
Die Wirtschaftsordnung der Europäischen Union sollte mehr als bisher nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft gestaltet werden.
Die Wettbewerbsregeln der Europäischen Union und die Grundregeln für den europäischen Binnenmarkt wurden im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft gestaltet. Die Generaldirektion Wettbewerb ist heute eine der mächtigsten Institutionen der Europäischen Union. Auch ist es gelungen, den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft in den Europäischen Verträgen zu verankern. Dieser Begriff wird aber nicht nur in Deutschland, sondern insbesondere auch in unseren Nachbarländern oft falsch verstanden. Das zeigt sich schon darin, dass man ihn oft als „Rheinischen Kapitalismus“ bezeichnet.
Aus Frankreich kommt immer wieder der Vorschlag, neben der Europäischen Kommission eine „Europäische Wirtschaftsregierung“ für die Eurozone einzurichten. Aufgabe einer Regierung ist, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft vorzugeben. In diesem Sinne ist die Europäische Kommission die Wirtschaftsregierung der Europäischen Union. Die Einrichtung einer weiteren Institution mit den gleichen Aufgaben ist nicht sinnvoll.
Ebenso unsinnig ist der Vorschlag, einen europäischen Finanzminister zu benennen. Ein Finanzminister ohne einen eigenen Haushalt und ohne Verankerung in einer der bestehenden Institutionen wäre wie ein General ohne Truppen. Ihm stünde ein trauriges und einsames Schicksal bevor.
Euro und politische Union
Der Euro hat seine ersten Bewährungsproben bestanden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die amerikanische Hypothekenkrise und die Insolvenz von Lehman Brothers nicht durch den Euro entstanden sind. Vielmehr hat dieser einen Beitrag zur Bewältigung dieser Krisen geleistet. Bei der Griechenlandkrise wurde die einzig sinnvolle Schuldenbremse missachtet, nämlich die Regel, dass jedes Mitgliedsland für seine eigenen Schulden verantwortlich bleibt.
Die Teuerungsrate des Euro liegt seit seiner Einführung – entgegen den Ankündigungen bärtiger Auguren – wie angestrebt unterhalb von zwei Prozent, also niedriger als die durchschnittliche Inflationsrate der ehemaligen Deutschen Mark. Auch hat sich der Euro zur zweitstärksten Reservewährung der Welt entwickelt. Allerdings steht eine weitere Bewährungsprobe bevor, wenn die amerikanische und dann auch die Europäische Zentralbank die Leitzinsen erhöhen werden. Das wird nicht nur zu einer Abschwächung der Wirtschaftstätigkeit, sondern auch zu einer erheblichen Belastung der öffentlichen Haushalte führen.
Das eigentliche Problem des Euro liegt aber auf einem ganz anderen Gebiet: Eine Währungsunion ist langfristig nur dann lebensfähig, wenn sie in eine politische Union eingebunden ist. Eine politische Union zeichnet sich aber nicht dadurch aus, dass alles harmonisiert wird; vielmehr besteht sie in einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik. Nur wenn Europa nach außen mit einer Stimme spricht, wird es in der Lage sein, seine weltweiten Interessen wirksam zu verteidigen.
Gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik
Bezüglich der gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik müssen wir zunächst einmal in der Wirklichkeit ankommen. Was unsere Sicherheit angeht, sind wir – wie der US-Politikwissenschaftler Zbigniew Brzeziński in seinem Buch „The Grand Chessboard“ zutreffend feststellt – weitgehend ein Protektorat der Vereinigten Staaten von Amerika. Ohne die Garantie der Vereinigten Staaten wäre auch heute unsere Sicherheit nicht zu gewährleisten. Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass ein reicher Kontinent, der seine Sicherheit anderen anvertraut, gefährlich lebt.
Seit Anfang dieses Jahrhunderts wurden Instrumente geschaffen, die es ermöglichen, die außen- und verteidigungspolitischen Interessen Europas gemeinsam zu definieren und zu vertreten. Dazu gehören der Europäische Auswärtige Dienst, der von Federica Mogherini geleitet wird, die Europäische Verteidigungsagentur, der europäische Grenz- und Küstenschutz und die Strukturen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
In diesem Rahmen werden Einsätze durchgeführt, die mehr politischen als militärischen Charakter haben, wie die Beobachtermission in Georgien, die Bekämpfung von Piraten am Horn von Afrika, der Schutz von Flüchtlingslagern im Tschad und die Absicherung von Wahlen im Kongo. Das sind Beispiele für Einsätze, an denen die Vereinigten Staaten von Amerika nicht interessiert sind und die deshalb keine Duplizierung, sondern eine Ergänzung der NATO bedeuten.
Die Mitgliedsländer der künftigen EU-27 (also ohne Großbritannien) geben etwa 150 Milliarden Euro für Verteidigung aus. Das ist etwa ein Viertel der Militärausgaben der Vereinigten Staaten. Von dort wird immer wieder gefordert, dass alle Mitglieder der NATO mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben sollen.
Das eigentliche Problem ist jedoch nicht die Höhe des Betrags, sondern die Zwecke, für die dieses Geld ausgegeben wird. Ein unverhältnismäßig großer Anteil wird für Strukturen verwendet, die nicht einmal, sondern 27-mal vorgehalten werden.
In der heutigen Situation muss es darum gehen, das Geld der Steuerzahler im Bereich der Verteidigung zielgerichteter auszugeben. Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union muss zu einem europäischen Pfeiler und zu einem Bestandteil der NATO weiterentwickelt werden. Dazu bietet sich die Nutzung bereits bestehender Strukturen wie des Eurocorps in Straßburg an. In Verbindung mit der deutsch-französischen Brigade sollte dieses zu einem wirksamen Instrument und einem Symbol für die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union weiterentwickelt werden. Das wäre ein Schritt auf dem Weg zu handlungsfähigen europäischen Strukturen und zu einer zukünftigen europäischen Armee.
Wenn man das Prinzip der Subsidiarität konsequent anwendet, müssen auch Ausgaben für unsere Sicherheit aus dem EU-Haushalt bezahlt werden. Die im Oktober vom Europäischen Parlament aufgrund der Initiative des Europaabgeordneten Michael Gahler bewilligten Mittel für Verteidigungsforschung sind ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Es ist ohnehin sinnvoll, den Haushalt der Europäischen Union mehr als bisher auf große Projekte zu konzentrieren wie die europäischen Infrastrukturen im Bereich des Verkehrs, der Energieversorgung und der satellitengestützten Dienste.
Bedeutung der EU-Institutionen
Im Zusammenhang mit den Krisen der letzten Jahre ist die Rolle der Institutionen der EU schwächer geworden. Die Europäischen Verträge, die sozusagen das Grundgesetz der Europäischen Union darstellen, wurden als Spielmaterial behandelt. Sie wurden nach Belieben angewendet – oder eben auch nicht. Wenn wir aber wollen, dass die Friedensordnung der Europäischen Union erhalten bleibt, darf dieses nicht der Tagespolitik der Nationalstaaten überlassen bleiben. Es ist eine Illusion zu glauben, Europa wäre langfristig von Berlin aus regierbar. Deutschland und Frankreich können ihre Führungsrolle nur gemeinsam gestalten. Auch müssen die kleinen und mittleren Mitgliedsländer angemessen in die Entscheidungen einbezogen sein. Das neue Abstimmungsverfahren der Europäischen Union, welches die Stimmen im Rat nach der Bevölkerungszahl gewichtet, ist dafür ein gut geeignetes Instrument.
Zusammenfassung
Wenn man das Prinzip der Subsidiarität konsequent anwendet, muss sich die Europäische Union folgende Prioritäten setzen: Sichere gemeinsame Außengrenzen, offene Binnengrenzen, ein starker Euro und eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, zu der auch eine europäische Armee gehören sollte.
Dr. Karl von Wogau ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und Generalsekretär der Kangaroo Group.