Brexit und Europäische Sicherheit
Beitrag zu einer Diskussion zu meinem 75. Geburtstag mit Hans-Gert Pöttering und Michel Barnier.
Wenn man heute über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union spricht, kann man das nicht tun, ohne auch über den Brexit zu sprechen. Die Tatsache, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen wird, istein gewaltiger Einschnitt. Das gilt auch fürmich persönlich.
Den Europäischen Binnenmarkt haben wir gemeinsam mit unseren britischen Freunden aufgebaut. Damals habe ich zusammen mit meinem Freund Basil de Ferranti dafür gekämpft, die Grenzen zwischen den Mitgli edsländern der Europäischen Union niederzureißen. Ich weiß noch,mit welcher Begeisterung wir damals dieses Ziel verfolgt haben. Damals haben wir es sogar erreicht, Margarete Thatcher zu veranlassen, für den Binnenmarkt das britische Veto zu opfern. In vielen wichtigen Punkten trägt der Binnenmarkt auch die britische Handschrift. Darum empfinde ich jetzt die Trennung von den Briten als eine Amputation.
Jetzt aber gilt es, nüchtern analysieren, was dieses in der Realität bedeutet. Zunächst einmal entfallen fast 20% der Wirtschaftsleistung der Europäischen Union. Wir sind jetzt nicht mehr mit unserer Wirtschaftsleistung der größte, sondern eindeutig der zweitgrößte Markt der Welt. Das mindert unsere Fähigkeit, auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten zu verhandeln.
Der Ärmelkanal wird wieder zu einerZollgrenze wie in alten Zeiten. Der damit verbundene Bürokratismus ist unangenehm für uns, aber noch unerfreulicher für die Briten. Auch stehen uns sehr schwierige Verhandlungen bevor über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und das zukünftige Verhältnis Großbritanniens zum Europäischen Binnenmarkt.
Diese wirtschaftlichen Aspekte sind aber weniger wichtig. Langfristig schwerwiegender ist die Tatsache, dass sich die Gewichte innerhalb der Europäischen Union verschieben. Deutschland gerät noch mehr in eine Führungsrolle, die es nicht gesucht hat und die es allein nicht leisten kann. Darum wird die deutsch-französische Zusammenarbeit noch wichtiger.Daraus darf aber kein Direktorium entstehen, sondern die kleinen und mittleren Länder müssen mit einbezogen werden. Das neue Abstimmungsverfahren im Rat bietet dafür eine gute Grundlage, da es große und kleine Länder in angemessener Weise berücksichtigt.
Besorgniserregend ist auch die Tatsache, dass in den letzten Jahren die Bedeutung der Europäischen Institutionen schwächer geworden ist. Ein starkes Europa kann es aber nur dann geben, wenn auch seine Institutionen stark sind.
Seit einiger Zeit kann man feststellen,dass die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik systematisch blockiert wird. Es könnte sein, dass diese Bremse durch die Trennung von Großbritannien gelockert wird. Wir müssen uns aber der Tatsache bewusst sein, dassder Schlüssel zu einem autonomen Europäischen Beitrag zur Sicherheitnicht in London liegt, sondern in Washington. Darum muss es uns gelingen, unsere amerikanischen Verbündeten davon zu überzeugen, dass eine leistungsfähige Sicherheitspolitik der Europäer auch in ihrem Interesse liegt.
Europäische Union 27
Die durch die Trennung von England entstandene Situation müssen wir nutzen, um noch einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, wie dieses zukünftige Europa der 27 aussehen soll.
Wir müssen uns mehr als in der Vergangenheit auf die Bereiche konzentrieren, wo das gemeinsame Handeln eindeutige Vorteile bringt: Auf den gemeinsamen Markt, die gemeinsame Währung und die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik.
Dafür brauchen wir keinen neuen Vertrag. Alles wasjetzt dringend zu tun ist, kann im Rahmen der heutigen Verträge geschehen. Die derzeitigen Probleme der Europäischen Union entstehen nicht durch die bestehenden Verträge, sondern durch die Art ihrer Umsetzung. Viele Probleme hätten wir nicht, wenn wir die Verträge eingehalten hätten.
Was wir als Bürger von der Europäischen Union erwarten können sind Beiträge zu unserer Sicherheit und zu unserem Wohlstand. Dabei müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dasses Wohlstand ohne Sicherheit nicht geben kann.
Darum ist es notwendig, dass das Europa der 27 in erster Linie auch ein Europa der gemeinsamen Sicherheit werden muss. Die Vorschläge von Michel Barnier undFederica Mogherini für die nächsten Schritte auf diesem Weg liegen auf dem Tisch. Bemerkenswert ist auch, dass Ursula von der Leyen gefordert hat, die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Verteidigungsunion weiterzuentwickeln.
Allerdings fehlt mir in diesen Vorschlägen ein konkretes Projekt, welches in verständlicher Weise den Weg zeigen könnte. Vorgeschlagen wird eine Permanente Strukturierte Zusammenarbeit, ohne klar zu sagen, worauf sich diese beziehen sollte.
Jacques Delors hat einmal gesagt, dass man sich nicht in einen Markt verlieben kann. Das gilt mindestens ebenso für eine Permanente Strukturierte Zusammenarbeit. Ich glaube nicht, dass unsere Feinde zittern, unsere Freunde frohlocken und unsere Bürger ruhiger schlafen werden, wenn wir ihnen ankündigen, dass wir jetzt weitergehen zu einer Permanente Strukturierten Zusammenarbeit. Diese ist ein Instrument, kein Ziel.
Was wir jetzt brauchen ist ein konkretes Projekt, welches gleichzeitig auch ein Symbol sein kann. Unterschätzen wir nicht die Kraft von Symbolen. Bei derVerwirklichung des Binnenmarktes waren es die Grenzschranken, die offene Grenzen nach innen und gemeinsame Grenzen nach außen anzeigten. Bei der gemeinsamen Währung sind es die Euromünzen, die jeder bei sich trägt und die auf der einen Seite ein Europäisches, auf der anderen Seite Symbole unserer Europäischen Nationen tragen.
Wenn es um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geht, kann ich mir derzeit kein stärkeres Symbol denken als das Eurocorps. Bei meinen Publikationen verwende ich immer wieder ein Bild des Eurocorps vor dem Europäischen Parlament. Darum habe ich auch vorgeschlagen, das Eurocorps in den Mittelpunkt der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stellen. Es sollte unser konkretes Nahziel sein, dieses zu einem wirksamen Instrument der Europäischen Verteidigung weiterzuentwickeln.
Langfristig werden wir aber nur dann Erfolg haben, wenn es uns gelingt, das Bewusstsein zu stärken, dass wir eine Schicksalsgemeinschaft sind. Wir sind und bleiben Deutsche, Franzosen, Spanier, Niederländer, PolenEsten und Litauer. Aber nur wenn wir wissen und fühlen, dass wir dadurch auch gemeinsam Europäer sind, wird es uns gelingen, unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten.