Karl von Wogau - Krieg und Frieden
Vor einiger Zeit hatte ich mit dem Präsidenten darüber gesprochen, daß ich dazu bereit sei, einen Vortrag zu dem Thema Krieg und Frieden zu halten. Inzwischen hatte ich zweimal die Absicht, diese Zusage zurückzunehmen, denn es wurde mir klar, daß mich dieser Anspruch überforderte. Darum werde ich mich darauf beschränken, einige Probleme zu formulieren, Fragen zu stellen und einige Schlussfolgerungen im Hinblick auf unsere Situation in Europa zu ziehen.
Zunächst will ich auch sagen, warum mich dieses Thema seit langer Zeit beschäftigt. Mein Vater ist im Krieg gefallen, und ich habe mir schon immer die Frage gestellt, warum und wofür. Später habe ich mich im Europäischen Parlament zehn Jahre lang damit beschäftigt, einen Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung aufzubauen. Das war damals ein neues Thema für die Europäische Union, die sich damals noch ganz auf die Fragen der Wirtschaftsgemeinschaft konzentrierte. Heute betreibe ich im Rahmen der von mir gegründeten Kangaroo Group in Brüssel einmal im Monat einen Arbeitskreis für Sicherheit und Verteidigung der Europäischen Union.
Bei der Vorbereitung dieses Vortrages habe ich erneut die Literatur durchsucht auf der Suche nach Grundlagen für Rezepte für die Erhaltung des Friedens.
Da war zunächst einmal Immanuel Kant mit seinem philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden. Neben anderen Regeln fordert er, daß die bürgerliche Verfassung in jedem Staate republikanisch sein soll. Er vertraute darauf, daß die Bürger einer Republik, da sie die Lasten und Drangsale des Krieges zu tragen haben, sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen. Wenn man an den Jubel der Menschen beim Beginn des ersten Weltkrieges erinnert, hat man es schwer, diese Zuversicht zu teilen.
In unserer Zeit hat sich Francis Fukuyama in seinem Werk über das Ende der Geschichte mit derselben Frage beschäftigt. Er vertrat die Auffassung, daß sich die Welt unaufhaltbar auf Verfassungen der liberalen Demokratie zubewege, und dass liberale Demokratien keine Kriege begännen. Diese These veröffentlichte er im Jahre 1992. Wenn man die Welt zwei Jahrzehnte später betrachtet, muß man leider feststellen, daß auch diese Erwartung durch den Lauf der Geschichte nicht bestätigt wurde.
Von besonderem Interesse ist der Briefwechsel zwischen Freud und Einstein zum Thema des Krieges. Auch hier kann ich nur das Fazit ziehen, daß der Krieg möglicherweise zu der menschlichen Natur gehört, und daß wir auf absehbare Zeit mit der Tatsache der Kriege werden leben müssen. Das deckt sich mit der Feststellung des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes, daß derzeit weltweit neunzehn Kriege stattfinden.
Man muß sich dann aber auch die Frage stellen, welche Institutionen oder Verfahrensweisen uns zur Verfügung stehen, um Kriege zu verhindern. Eine Möglichkeit besteht in globalen Institutionen, welche bei Konflikten die Rolle des Schiedsrichters übernehmen. Der Völkerbund und die Vereinten Nationen sind Versuche in dieser Richtung. Erfolg können diese Institutionen aber nur dann haben, wenn sie auch über die Macht verfügen, um ihre Entscheidungen durchzusetzen.
Ein anderes Konzept ist das Gleichgewicht der Mächte, das von Henry Kissinger vertreten wird. Ein Prinzip, das eine der Grundlagen des Wiener Kongresses war und dort von Metternich, Castlereagh und Talleyrand vertreten wurde. Hier entstand eine Gruppe von Großmächten, welche die Aufgabe übernahmen, internationale Streitigkeiten zu schlichten. Diese Friedensordnung begann sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert aufzulösen und endete definitiv mit dem Beginn des ersten Weltkrieges. Wenn man den Verlauf der Geschichte seit dem Westfälischen Frieden betrachtet, kann man leider immer wieder dieselbe Struktur sehen: Eine große Katastrophe, dann eine Periode des Friedens, dann eine Zeit kleinerer Kriege und dann wieder ein universeller Krieg. Das war zunächst der Dreißigjährige Krieg, dann der Spanische Erbfolgekrieg, dann die Kriege Napoleons und dann die beiden Weltkriege. Dieses zeigt, daß auch die Politik des Gleichgewichtes der Mächte den Test nicht besteht, eine dauerhafte Friedensordnung zu sein.
Unter diesen Voraussetzungen ist es eine Erfolgsgeschichte der Europäischen Idee, daß wir in Europa , genauer gesagt in den Ländern der Europäischen Union, eine Friedensperiode von siebzig Jahren erlebt haben. Für uns geht es heute darum, was wir tun müssen, um diese Erfolgsgeschichte in die Zukunft zu verlängern.
Situation heute
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand mit den Nuklearwaffen eine neue Situation. Die Tatsache, daß die beiden Nuklearmächte dazu in der Lage waren, sich gegenseitig vollständig zu vernichten, trug dazu bei, daß ein Krieg zwischen diesen verhindert werden konnte. Dennoch fanden, beginnend mit Korea und Vietnam, zahlreiche Stellvertreterkriege statt, und zwischen den beiden Großmächten kam es immer wieder zu gefährlichen Situationen.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Warschauer Paktes waren wir davon ausgegangen, daß diese Bedrohung nun endgültig der Vergangenheit angehören würde. Die Sicherheitsstrategie der Europäischen Union, die wir im Jahre 2003 formulierten, beginnt mit der Feststellung, daß Europa noch nie zuvor so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen sei. Im Hinblick auf die Sicherheit könnte dieses heute nicht mehr so gesagt werden.
Spätestens die Ereignisse in der Ukraine haben wieder ins Bewusstsein gerufen, daß die nukleare Situation zwischen Amerika und Russland nach wie vor besteht. Dazu kommt die Tatsache, daß sie sich auf der regionalen Ebene reproduziert, wie beispielsweise in dem nuklearen Patt zwischen Pakistan und Indien. Man stelle sich vor, was geschehen würde, wenn Pakistan in die Hände einer islamistischen Regierung geriete.
Die Flüchtlinge aus Syrien führen uns auch täglich vor Augen, daß nach wie vor täglich bewaffnete Auseinandersetzungen unterhalb der nuklearen Schwelle stattfinden. Ich nenne nur die Ukraine, Syrien, Irak, den Kongo, Libyen, Mali und viele andere mehr. Oft sind es Kriege neuer Art, hybride Kriege mit einer Kombination von verdeckter Kriegführung, Diplomatie und Angriffen auf die elektronische Infrastruktur der betroffenen Länder.
Wie soll Europa darauf reagieren?
Diskussion über die Sicherheitsstrategie
Die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Frederica Mogherini, hat von den Staats- und Regierungschefs den Auftrag erhalten, bis zur Mitte des kommenden Jahres eine neue Sicherheitsstrategie für die Europäische Union vorzulegen. Derzeit findet eine Diskussion statt über die Schwerpunkte dieser Sicherheitsstrategie.
Die Sicherheitsstrategie des Jahres 2003 trägt die Überschrift: „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“. Die neue Sicherheitsstrategie wird sich erneut mit der Frage auseinandersetzen, ob und welche ethischen Normen in der Außenpolitik gelten und wer die Verantwortung trägt, diese durchzusetzen.
Wichtig ist hier die neue Doktrin der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, die besagt, daß zum Schutze der Menschenrechte auch militärische Interventionen erforderlich sein können. Erstmals wurde diese von den Vereinten Nationen in dem Libyenkonflikt zur Begründung eines militärischen Einsatzes herangezogen . Ich sehe hier die Gefahr, daß diese Doktrin zur Begründung gleich welchen militärischen Einsatzes mißbraucht werden kann. Daher bin ich der Meinung, daß Möglichkeiten und Grenzen sogenannter „Humanitärer Interventionen“ klarer herausgestellt werden müssen.
Auch muß auch klar festgestellt werden, daß sich unsere Europäische Außenpolitik und Sicherheitspolitik in erster Linie den Interessen der Bürger der Europäischen Union zu dienen hat. Nicht nur dem gemeinsamen Interesse, in Frieden und Sicherheit zu leben, sondern beispielsweise auch der Sicherheit unserer Energieversorgung und der Sicherung unserer Handelswege.
Die eigentliche Herausforderung besteht aber darin, eine autonome Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union zu gestalten. Ein reicher Kontinent wie Europa, der seine Sicherheit nicht selbst gewährleisten kann, lebt gefährlich. Wir sind in Bezug auf unsere Sicherheit vollständig von unseren amerikanischen Verbündeten abhängig. Der Konflikt in Libyen hat gezeigt, daß Europa selbst kleine Auseinandersetzungen nicht aus eigener Kraft bewältigen kann. Und wir erwarten von den Amerikanern, daß sie immer wieder das Leben ihrer Soldaten und ihrer Bürger für die Sicherheit Europas gefährden.
Wir besitzen nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die Mittel, um zumindest bei der Lösung von Konflikten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft einen stärkeren Beitrag zu leisten. Darum müssen wir die bisher nur in Ansätzen bestehende Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union zu einem Europäischen Pfeiler der Nato weiterentwickeln.